Heute zusätzlich zum Text noch ein kurzes Video, damit ihr mich auch alle auf mein Vorhaben festnageln könnt. Wer macht denn mit beim NaNoWriMo?
01 Dienstag Nov 2016
01 Montag Sept 2014
Posted Kreative Ergüsse, Prosa
inSchlagwörter
anna netrebko, bahnhof zoo, charlottenhof, hertha bsc, il trovatore, nacht, placido domingo, popkultur, prosa, verdi
Wieder steht der Bus. Es ist die dritte rote Ampel, die er bei dieser Fahrt mitnimmt. Ungeduldig blicke ich auf meine Uhr. Noch ist genug Zeit den Anschlusszug zu erwischen. Allerdings ist der auch die letzte Chance noch vor 5 Uhr morgens wieder zu Hause zu sein, sodass ich mein Glück nicht unbedingt auf die Probe stellen will. Die Aussicht, mehr als vier Stunden alleine am Bahnhof Zoo abzuhängen ist dann doch nicht so prickelnd.
Um die Fahrt voranzutreiben, schreie ich in Gedanken die Ampel an. Die lässt sich davon allerdings wenig beeindrucken und somit versuche ich es mit einem übertrieben freundlichen Lächeln. Das scheine ich dann auch nicht nur in Gedanken auf mein Gesicht zu zaubern, denn als die Ampel tatsächlich auf grün springt und ich mich wieder etwas entspannter in meinen Sitz zurücklehne, fange ich den etwas irritierten Blick eines mir gegenübersitzenden Mädchens auf. Um den peinlichen Moment zu überspielen, lasse ich meine Mundwinkel einfach oben und strahle sie an. Sie blickt noch irritierter und steigt schließlich kopfschüttelnd an der nächsten Haltestelle aus. Meinen Humor versteht halt nicht jeder, denke ich nur und versuche krampfhaft nicht in einen Post-Peinlichen-Schwitzezustand zu geraten.
An der Haltestelle haben sich zwei Fahrradfahrer vor den Bus geschoben. Angeregt in ein Gespräch vertieft, fahren sie nebeneinander her und das sehr langsam. Durch eine Baustellenabsperrung kann der Bus nicht überholen und muss sich notgedrungen dem Tempo anpassen.
Normalerweise würde ich diese Situation sehr komisch finden. Würde mir vorstellen, worüber sich die beiden Radfahrer wohl unterhalten, mir ihre Befriedigung ausmalen, die sie verspüren, weil sich der Bus ihrer Geschwindigkeitsvorgabe beugen muss. Mit Freuden würde ich dem Gebrüll des Busfahrers lauschen, sein wutverzerrtes, hilfloses Gesicht studieren und mich noch den ganzen Tag über Flüche freuen, die ich noch nie zuvor gehört habe. Doch nicht heute. Ich habe schließlich einen Zug zu verlieren. Nach dem erfolgreichen Erstversuch bei der Ampel, vergesse ich mein peinliches Erlebnis von eben und lächle den Radlern angestrengt in den Rücken. Keine Reaktion. Also fange ich an, innerlich zu schimpfen und blicke, auf Unterstützung hoffend, in Richtung Busfahrer. Doch der hebt nur einmal verzweifelt die Hände, lässt sie mit voller Wucht wieder auf sein Lenkrad klatschen und setzt dann einen zutiefst resignierten Blick auf. Fassungslos starre ich ihn, er bemerkt es zwar, zuckt jedoch nur mit den Schultern und starrt weiter stur geradeaus. Das wäre mir in Potsdam nicht passiert. Dort haben Busfahrer noch Selbstachtung, aber auch an deren Zunft geht die Großstadt scheinbar nicht spurlos vorüber.
Um meine Nerven zu beruhigen, lasse ich in Gedanke noch einmal die Operninszenierung Revue passieren, die ich vor einer Stunde zusammen mit meinem Bruder gesehen habe. Es gab Verdis „Il Trovatore“ mit Placido Domingo und Anna Netrebko in den Hauptrollen. Zugegeben, es war nur eine Fernsehübertragung, aber immerhin von den Salzburger Festspielen. Und was für eine: Mit Kunst und Pomp. Mit Phantasie und Schmalz. Ganz großes Kino.
Die Gedankenreise funktioniert. Langsam stellt sich eine benebelnde Kultur-Zufriedenheitsruhe ein, die mich über so triviale Dinge, wie Busverspätungen nur lächeln lässt. Wer braucht schon einen Anschlusszug, wenn er Verdi genießen durfte.
Doch auch Verdi hat seine Grenzen. Und die werden sofort gesprengt als der Zug nun doch endlich am Bahnhof Zoo ankommt. Schon von weitem kann ich sie hören: Eine Gruppe von Hertha-Fans, die irgendwo hinten auf dem Bahnsteig steht und laut diverse – mal mehr, mal weniger melodiöse – Parolen grölt. Diesmal versuche ich es erst gar nicht mit einem Lächeln, sondern bete nur, dass sie nicht in meinen Zug einsteigen werden.
Natürlich tun sie aber genau das. Und da Fußballfans bekannterweise nicht so schnell müde werden, was Gesang angeht, darf ich mir nun den Rest meines Heimwegs solch poetische Zeilen wie „Fußball ist unser Leeeben, wir leeeben füür den Fußball“ anhören – man beachte die künstlerische Bearbeitung der Vokale. Der rhythmische Klassiker „Hertha, Hertha BSC“ darf natürlich auch nicht fehlen, nur noch überboten von dem simplen Dauerbrenner „Olee, ole, ole, olee“. Dabei könnte man ihnen ja schon fast Metrikkenntnisse unterstellen.
Zuerst versuche ich, das Gegröle auszublenden und in meinen Kopf Verdi-Melodien dagegen zu schmettern. Doch wie so oft, ist auch hier die dunkle Seite stärker und die Klassik muss sich der Popkultur beugen. Die Fanriege ist inzwischen zur Hochform aufgelaufen und versucht sich im Improvisationsgesang. Von nun an weiß jeder Fahrgast, wann und wie oft, ein Flaschensammler vorbeikommt – „Flaschensammler, ole, olee“ oder welcher Bahnhof gerade angefahren wird – „Wannsee, ole, olee“. Deswegen bin ich auch kurz irritiert, als sie auf einmal beginnen „Kölner Dom, der Kölner Dom, wir machen ihn zum größten Puff der Welt“ zu singen und frage mich, ob ich auch in den richtigen Zug gestiegen bin. Ein lautes „Pootsdam, du schönes Potsdam“ beruhigt mich dann aber schnell wieder.
Schließlich rollt der Zug in Charlottenhof ein und diesmal bin ich es, die kopfschüttelnd aussteigt. Durch das Fenster des wegfahrenden Zuges sehe ich einen der Fußball-Fans. Er hat sich eine Hertha-Fahne wie ein Badetuch um die Hüften gewickelt und lächelt mir zu. Irritiert lächle ich zurück und stolpere dabei fast in einen Mann hinein, der Flaschen aus einem Mülleimer fischt. Ein Grinsen huscht über mein Gesicht und mit einem leisen „Flaschensammler, ole, olee“ auf den Lippen laufe ich durch die Nacht nach Hause.
© Ricarda Righetti
10 Sonntag Nov 2013
Posted Kreative Ergüsse, Persönliches, Prosa
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archiv, gotische bibliothek, kastanie, kindheit in potsdam, marmorpalais, mensch-ärgere-dich-nicht, neuer garten, opa, potsdam, prosa, pyramide, redaktion
für Opa
Geschafft. Endlich Feierabend. Ihr Kopf war vollgestopft mit Zitaten, Daten und Verlagsnamen. Kaum noch zu gebrauchen und eigentlich nur noch auf Autopilot gestellt. Das einzige, was er konnte, war den Füßen sagen, wohin sie sich bewegen sollten. Immer vorwärts, durch den Park, Schritt um Schritt. Ihr ganzer Körper lechzte nach Bewegung, hatte sie doch die ganze Woche nur vor dem Computer gesessen. Tagsüber um im Archiv den Katalog zu durchforsten und am Abend, um noch den aktuellen Artikel für die Tageszeitung fertig zu stellen.
Auch jetzt trugen sie ihre Füße direkt in die Redaktion. Ein Stück über die gestrige Veranstaltung im Alten Rathaus wollte geschrieben werden. Ihr Kopf hatte also nur eine kurze Verschnaufpause. Kindheit in Potsdam, das war das Thema. Mehr oder weniger berühmte Menschen erzählten über ihre frühen Erinnerungen. Da kamen skurrile Geschichten zu Tage: Eine Fotografin schaute sich als Kind gerne die Schaufenster eines Beerdigungsinstituts an und bestaunte die weißen Särge. Später kaufte sie dort ihre schwarzen Strümpfe. Ein junger Unternehmer vermutete hinter den Zäunen des Grenzbereichs der DDR, auf Grund von bunten Farbtöpfen den Wohnort des Osterhasen und ein Buchhändler erinnerte sich an die Rattenmassen in dem damals noch gefluteten Kanal. Mit gezielten Kastanienwürfen hatten er und seine Freunde versucht, sie zu vertreiben, allerdings mit nur mäßigem Erfolg.
Ihre Füße hatten sie inzwischen an der Pyramide im Neuen Garten vorbeigetragen und steuerten nun auf das Marmorpalais zu. Am gegenüberliegenden Ufer wurde ein Haus von der untergehenden Sonne beschienen. Sie spiegelte sich rot-orange in den Fenstern und ließ das Haus in Flammen stehen. Weißgraue Wolken bildeten darüber die dazugehörigen Rauchschwaden. Für ein paar Schritte schloss sie die Augen. Die Füße fanden den Weg auch alleine. Gierig saugte sie die Abendluft ein und blies sie stoßweise wieder aus. Dann öffnete sie die Augen. Ihre Füße waren über etwas am Boden gestolpert, eine Kastanie. Sie war noch ganz glatt, wie frisch aus der Schale geschlüpft und hatte eine flache Unterseite, wie ein Kieselstein. Sie war hellbraun mit ein paar dunkelbrauen Flecken, die schon fast ins Schwarze rutschten. Wunderschön! Ihre Finger schlossen sich darum und betasteten die runde Baumfrucht eine Weile.
Kastanien weckten immer Erinnerungen in ihr. In dem Hinterhof ihrer Kindheit hatte ein Kastanienbaum gestanden. Stundenlang hatte sie manchmal auf ihrem Fensterbrett gesessen und sich eingebildet, sie könnte dem Baum beim Wachsen zusehen. Manchmal hatte sie ihn auch flüstern gehört. Auch jetzt schien es ihr, als würde sie eine leise Stimme vernehmen.
Im Auto ihres Opas lag auch immer eine Kastanie. Seit sie denken konnte, sammelte er jeden Herbst eine frische und tauschte sie im folgenden Jahr aus. Am Anfang war sie immer so glatt und weich, wie die, die sie gerade gefunden hatte, irgendwann wurde sie stumpf und hart und am Ende schrumpelte sie in sich zusammen. Fast wie der Mensch. Sie hatte sich oft gefragt, was er mit den alten Kastanien machte. Er hatte ihr versichert, er würde sie nicht wegschmeißen, aber wohin verschwanden sie dann? Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, wie er ein großes geheimes Zimmer in seinem Haus eingerichtet hatte, in dem sie allen lagerten. Ein Turm, der von Jahr zu Jahr größer würde und immer nach Herbst roch. Inzwischen wusste sie natürlich, dass er die Kastanien eben doch wegschmiss, aber manchmal hielt sie trotzdem noch an der Idee des geheimen Zimmers fest, es war einfach der schönere Gedanke.
Seit sie von ihrem Kastanienbaum weggezogen war, hatte sie es sich ebenfalls zur Gewohnheit gemacht, jedes Jahr eine Kastanie zu sammeln. Manchmal waren es auch mehrere. Sie lagerten in ihren Jackentaschen, auf ihrem Schreibtisch und in Schubladen. Keine von ihnen wurde jemals weggeschmissen und doch verschwanden immer wieder welche. Vielleicht wanderten sie in ihr imaginäres Kastanienzimmer, wer wusste das schon.
Inzwischen hatte sie das Marmorpalais passiert und bog auf den Weg zur Gotischen Bibliothek ab. Eine Truppe Touristen kam ihr entgegen. Ein paar von ihnen balancierten Kaffeebecher vor sich her und versuchten mit einer Hand Zucker in das dampfende Getränk zu schütten. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Zuckerkörnchen langsam in der Schaumkrone des Kaffees verschwinden und musste lächeln. Noch so eine Angewohnheit, die sie mit ihrem Opa teilte: Wenn er einen Cappuccino trank, nahm er Zucker dazu, schüttete ihn auf die schwarz-braune Oberfläche, fing ihn mit dem Löffel ab, kurz bevor er ganz im Kaffee verschwand und genoss dann diese bittersüße Mischung auf dem Löffel. Seiner Meinung nach, der schönste Moment beim Kaffeeritual. Sie konnte das nur bestätigen, erntete aber auch regelmäßig seltsame Blicke, wenn sie im Café mal wieder den Zuckerstreuer für sich beanspruchte.
Ihre Füße zügelten das Tempo. Sie hatten die Gotische Bibliothek schon fast erreicht und sie wussten, wenn sie dort vorbeigegangen waren, waren es nur noch wenige Schritte in die Redaktion. Das bedeutete wieder still stehen, sitzen und das Handeln erneut dem Kopf überlassen. Somit versuchten sie noch ein bisschen Zeit zu schinden uns langsam an der Bibliothek vorbei zu schleichen. Auf dem matschigen Weg lag ein vergessenes Set Spielkarten. Der Pik König war etwas abseits. Seine obere Ecke fehlte.
Am Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielbrett ihrer Großeltern fehlte auch. eine Ecke. Ihr Opa hatte sie als Kind immer damit aufgezogen, dass sie irgendwann aus Ärger über ein verlorenes Spiel, die Ecke abgebissen hätte. Obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte, hatte sie ihm die Geschichte irgendwann fast geglaubt, so überzeugend hatte er sie erzählt. Dabei hätte er sie ebenso gut selbst abbeißen können. Er war nämlich ein genauso schlechter Verlierer wie sie. Und genauso aufbrausend.
Ihre Finger strichen über die glatte Oberfläche der Kastanie in ihrer Tasche, während die Füße schon die Stufen zur Redaktion hochstiegen. Bereits auf Autopilot schaltend, steuerten sie auf ihren Schreibtisch zu und überließen dem Kopf wieder das Steuer. Sie platzierte die Kastanie vor sich neben die Tastatur, blätterte ihre Notizen durch und begann zu schreiben. Kindheit in Potsdam. Schwarze Strümpfe, bunte Farbtöpfe und Kastaniengeschosse. Der Kopf setzte die Wörter flüssig nebeneinander. Der Bildschirm füllte sich mit Sätzen. Nebenbei aß sie ein Stück Kirschkuchen. Beim letzten Bissen musste sie spucken. Natürlich. Sie hatte einen Kirschkern erwischt. Wie jedes Mal. Genau wie ihr Opa.
-ENDE –
© Ricarda Righetti
19 Dienstag Mär 2013
Posted Kreative Ergüsse, Prosa
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amelie, goldgeist, kurzgeschichte, läuse, nissenkamm, prosa, schwarz, weiß
Die Badewanne ist übersäht mit schwarzen Punkten. Sie zentrieren sich um den Abfluss und verteilen sich in einer seltsamen, nach außen hin dünner werdenden Streuung über den ganzen Wannenboden. Manche von ihnen bewegen sich noch und versuchen sich wild zappelnd vor dem drohenden Wasserstrom zu retten.
Läuse. Miriam hasst diese Viecher. Sie sind lästiger als Mücken und ihrer Meinung auch noch sinnloser. Andere Menschen ekeln sich vor Spinnen oder Schlangen. Ihr schlimmster Albtraum sind eindeutig diese kleinen schwarzen Tiere, die in einer Farbpalette von grau-durchsichtig bis tiefschwarz existieren und bis zu 3 mm groß werden können. Seid ihrem 15. Lebensjahr bis hin zum Abitur hat sie die Seite über Gliedertiere im Bio-Buch immer überblättert, weil dort eine übergroße Kopflaus abgebildet war. Als ob sie ein Bild bräuchte, um zu wissen wie diese Viecher aussehen. Selbst jetzt noch, über 20 Jahre später braucht sie nur ein leichtes Kopfhautjucken zu verspüren und sofort durchsucht sie jedes ihrer Haare einzeln nach den kleinen weißen Nissenbällchen. Jeder schwarze Fussel, den sie entdeckt wird überprüft, sobald er auch nur den Ansatz von sechs stacheligen Beinen zeigt. Zu ihrer großen Erleichterung blieb sie aber von einem zweiten Befall verschont. Bis jetzt.
Der Oberkörper ihrer Nichte Amelie hängt über dem Wannenrand, während sie ihre Haare mit dem Nissenkamm bearbeitet. Amelie hat lange dicke, fast schwarze Haare, wie ihre Mutter. Und wie ihre Mutter damals hat sie sich im Kindergarten Läuse eingefangen. Ausgerechnet zum Sommerbeginn, den Amelie diesmal bei ihr verbringt. Eigentlich sollte es eine turbulente Zeit mit Nachtschwimmen im See, Eis zum Abwinken und verrückten Verkleidungssessions werden. Stattdessen würde sie die nächsten Tage damit beschäftigt sein, alle Betten- und Couchbezüge zu waschen und sämtliche Plüschtiere in Müllsäcke zu verbannen.
Sie bemerkte es letzten Abend. Amelie saß beim Essen und stopfte sich mit kindlicher Freude ihre Pizza in den Mund. Sie hatte sie selber belegen dürfen, was zur Folge hatte, dass wirklich alles aus dem Kühlschrank auf dem Teig gelandet war. Aber sie aß es mit sichtlichem Genuss und hatte dabei schon den Blick auf die Schüssel mit Schokopudding gerichtet. Das Schokopuddingwettessen ist eine Tradition, die sie sich mit Amelie ausgedacht hatte. Meistens ließ sie die Kleine gewinnen, so musste sie nie mehr als zwei Portionen essen. Doch an diesem Abend kamen sie nicht mehr dazu. Eine einzelne wagemutige, noch fast durchsichtige Laus krabbelte über Amelies Stirn und sofort brach Panik aus.
Genau genommen brach nur Miriam in Panik aus, während Amelie in Seelenruhe die letzten Krümel ihrer Pizza mit dem Finger aufstippte. Sie griff sich Amelies Kopf und arbeitete sich systematisch durch die vielen Haarschichten. Die Läuse hatten sich schon gut eingerichtet, ein ganzer Pulk an krabbelnden schwarzen Punkten wuselte auf dem Kopf ihrer Nichte umher. Der untere Haaransatz zum Hals hin war bereits gut mit Eiern besetzt, der Ansatz an den Ohren war allerdings noch verschont geblieben. Eine Laus verfing sich unter Miriams Fingernagel, woraufhin sie angewidert aufschrie und zum Waschbecken rannte. Die Panik musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn Amelie fragte sie ängstlich was denn los sei und zeigte kein Interesse mehr an der Schokoladenpuddingschüssel. Miriam atmete tief durch, angelte sich mit zusammengebissenen Zähnen eine weitere Laus von Amelies Kopf, zeigte sie ihr und erklärte, dass sie Parasiten auf ihrem Kopf hätte, die bereits Eier gelegt hätten und man diese so schnell wie möglich loswerden müsste. Daraufhin fing die Kleine an zu weinen und fragte, ob sie jetzt sterben müsste, weil die „Partiten“ sie auffressen würden. Jetzt erst wurde Miriam bewusst wie unerwachsen sie sich aufführte, nahm ihre Nichte beschützend in den Arm und versicherte ihr, dass hier niemand sterben würde – außer diese verdammten Mistviecher, wie sie in Gedanken hinzufügte – und die Läuse nicht gefährlich waren. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass in dieser einen unachtsamen Sekunde wahrscheinlich schon fünf geschlechtsreife Läuse auf ihren Kopf umgesiedelt waren und sich nun einen geeigneten Ablegeplatz für ihre Eier suchten. Ruckartig entfernte sie ihren Kopf von Amelies Haarschopf, doch ein Blick in die immer noch tränennassen Augen der Kleinen, ließ ihn wieder zurücksinken. Jetzt war es auch egal.
Amelie zuckt zusammen und gibt ein schmerzvoll quiekendes Geräusch von sich als der Kamm sich in ihrem Haar verheddert und in ihre Kopfhaut piekt. „Tut mir leid!“ entschuldigt sich Miriam und beeilt sich die Zinken aus dem Haar zu lösen. „Dauert es noch lange?“ fragt die Kleine. Ihre Stimme klingt dumpf aus der Wanne empor und hallt an den kahlen Wänden des Badezimmers wider. „Nur noch einen kleinen Moment!“, versichert Miriam, „Wir sind gleich fertig!“
Nachdem sich Amelie einigermaßen beruhigt hatte, liefen sie sofort in die nächste Apotheke und Miriam verlangte nach Goldgeist und einem Nissenkamm. Die Apothekerin, eine große blonde Frau mit tiefer Stimme, empfahl ihr ein neueres Produkt und legte noch eine Probe Weidenrindenshampoo bei. „Für danach. Zur Vorbeugung!“ fügte sie hinzu. Miriam bedankte sich, bezahlte hastig und las sich die Packungsbeilage noch auf dem Weg nach Hause durch. Acht Stunden sollte man das Mittel einwirken lassen, am besten über Nacht. Angeblich würden dann alle Läuse absterben und vom Kopf fallen. Man müsste dann nur noch die Nissen auskämmen. Sie stellte sich vor wie sie in einem Haufen toter Läusen aufwachte. Allein der Gedanke daran verursachte eine Gänsehaut der unangenehmen Art.
Zu Hause angekommen verteilte sie deutlich mehr als die angegebene Menge auf ihrem und Amelies Kopf. Sie war fest entschlossen, die nächsten acht Stunden wach zu bleiben und wickelte sich ein Handtuch fest um den Kopf, um zu verhindern, dass sich die absterbenden Läuse quer in ihrer Wohnung verteilten. Amelie bestand darauf, ebenfalls ein Handtuch zu bekommen. Das Argument, dass sie bald zu Bett gehen müsste und mit dem Turban auf dem Kopf kaum bequem schlafen könnte, ließ sie nicht gelten.
Um ihre Nichte zu beruhigen, legte Miriam gegen alle Prinzipien eine Dvd ein. Normalerweise würde sie etwas vorlesen oder sie würden sich zusammen eine Geschichte ausdenken, aber dazu fehlte ihr jetzt die Ruhe. Also saßen sie beide auf der Couch, die Miriam vorsorglich mit einem Laken bedeckt hatte und schauten „Madita“. Es war der Film, in dem sich die kleine Madita bei Mia mit Läusen ansteckt und sie darüber Freunde werden. „So etwas funktioniert auch nur bei Astrid Lindgren!“, dachte Miriam und prüfte vorsichtig, ob ihr Turban noch fest am Kopf saß. Krampfhaft versuchte sie, sämtliche aufblitzenden Bilder von wild krabbelnden Läusen, die sich im Todeskampf in ihrer Kopfhaut verbissen, zu verdrängen.
Amelie war sichtlich begeistert von dem Film. Die Stelle, in der die Mädchen, ebenfalls mit Handtuchturbanen auf dem Kopf, in der Hollywoodschaukel sitzen und singen, wollte sie dreimal hintereinander sehen. Schließlich saßen sie beide wippend auf ihren Plätzen und sangen lautstark mit: „Wir schaukeln unsre Bienchen, hohojaja! Solange bis sie drauf gehen, hohojaja! Aber wir gehn dabei nicht drauf!“ Den letzten Satz schrieen sie laut heraus und kugelten sich dann lachend auf der Couch.
Endlich ist sie fertig. Jede Strähne hat sie doppelt durchgekämmt und nun entlässt sie Amelie unter die Dusche. Dort seift sie die Kleine ordentlich ab und spült die Haare noch mal mit der Shampooprobe aus der Apotheke durch. Das Telefon klingelt. In ihren Bademantel gehüllt, flitzt Amelie los und nimmt den Hörer ab. Es ist ihre Mutter, die sich nach dem Aufenthaltsverlauf erkundigt.
Angewidert blickt Miriam in die Wanne und beeilt sich die schwarze Läuseschicht in den Abfluss zu spülen. Quälend langsam verschwindet ein Punkt nach dem anderen in dem Rohr unter der Wanne. Zur Sicherheit lässt sie den Wasserstrahl eine ganze Weile laufen. Die Vorstellung, dass einzelne Tiere wieder nach oben krabbeln könnten, erfüllt sie mit Ekel.
Aus dem Wohnzimmer hört sie Amelies helle Stimme, die mit schon wieder fröhlich klingender Stimme von der Läusebekämpfung berichtet. Aus ihrem Mund hört es sich wie ein aufregendes und ruhmreich bestandenes Abenteuer an. Ein Abenteuer, das sie in acht Tagen wiederholen dürfen. Amelie ruft ihren Namen, ihre Schwester möchte sie sprechen.
Seufzend stellt Miriam das Wasser ab, legt die Handtücher in ein Chlorbad ein und schaltet im Bad das Licht aus.
-ENDE-
© Ricarda Righetti
02 Samstag Feb 2013
Posted Kreative Ergüsse, Prosa
inDer Regen glitzerte im Sternenlicht und sie fühlte sich wie auf einer Bühne während sie die leere Straße entlangtanzte. Woher die Musik kam, wusste sie nicht, sie schien von überall zu kommen, vielleicht entsprang sie auch ihrer Phantasie, doch das kümmerte sie nicht. Eine seltsame Kraft ließ sie von innen heraus leuchten und in ihrem weißen, goldbestickten Gewand glich sie auf seltsame Weise Mond und Sonne zugleich. Sie spürte eine nie gekannte Freude, die sie durch und durch ausfüllte.
Die dunkle Leere überfiel sie ohne Warnung. Als der Regen verebbte und die Sonne aufging spürte sie wie ihr Strahlen erlosch, bevor die Wucht des Einschlags sie zu Boden sinken ließ. Weiß wandelte sich zu Rot, Gold zu Kupfer. Der Pfeil steckte tief in ihrer Brust und streute sein Gift.
© Ricarda Righetti
02 Samstag Feb 2013
Posted Kreative Ergüsse, Prosa
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feliz navidad, kurzgeschichte, prosa, silvester, supermarkt, weihnachten, wein
Lars ist gefeuert worden.
Dicht an das Sektregal gequetscht ziehe ich die hinteren Flaschen nach vorne und positioniere sie wieder in einer ordentlichen Reihe, sodass es fast so aussieht als wäre das Regal gut befüllt. Das Regal leert sich zunehmend. Ein paar Sorten sind ausverkauft. So gut es geht schiebe ich die restlichen aneinander, dass es weniger auffällt. Fünf Pakete mit Rotkäppchen Sekt (trocken und mild) habe ich inzwischen nachgefüllt. Aber es hilft nicht wirklich. Hinter mir drängt sich die Schlange von Kasse drei bis zum Konservendosenregal. Die Schlangen der restlichen Kassen reihen sich parallel dazu auf. Zusammen bilden sie ein geometrisches Muster, das aus der Vogelperspektive wahrscheinlich wie ein Kamm aussieht. Oder wie zwei untereinander geschriebene „E“, die sich einen Querstrich teilen.
Es ist der 31. Dezember, Silvester und die Leute drängen sich dicht an dicht, um die letzten Zutaten für ihr Fondue oder Raclette zu besorgen, die zehnte Flasche Sekt nach Hause zu tragen und noch ein paar Knaller zu ergattern. Ständig werde ich nach Kindersekt oder Bleigieß-Zeug gefragt. Die ersten zehn Mal setze ich noch ein entschuldigendes Lächeln auf und erwidere bedauernd, dass das Gewünschte leider ausverkauft sei. Bald flacht es jedoch zu einem eher verzweifelten „Ist ausverkauft, tut mir sehr leid!“ ab und inzwischen bringe ich nur noch ein entnervtes „Ham wa nich mehr!“ zustande. So also entwickelt sich der typisch deutsche Verkäuferslang.
Inzwischen bin ich beim Schnaps angekommen und habe etwas Zeit um über Lars nachzudenken. Ich mochte ihn. Er war der erste, dessen Namen ich mir gleich am ersten Tag merken konnte. Das lag wohl auch an seinem Nachnamen: Larssen. Lars Larssen. Eltern können so grausam sein. Gut, ich muss zugeben, er war nicht gerade die zuverlässigste Aushilfskraft. Nie wirklich pünktlich und immer etwas gemütlich. Aber er hatte das Herz am rechten Fleck und war immer für einen Spaß zu haben. Die Spätschicht mit ihm zu verbringen war immer lustig. Allerdings sah das unsere Chefin wohl anders.
Ich bin mit dem Regal fertig und flüchte kurz in unser Büro, um etwas zu trinken. Gerade als ich die Flasche ansetze wird die Tür schwungvoll aufgerissen, die Chefin stürmt rein, ruft laut und verzweifelt „Ich hasse alle! Ich hasse alle! Ich hasse alle!“ und stürmt wieder raus. Ich fühle mit ihr, muss mich aber dennoch beherrschen, nicht laut loszuprusten und mein Wasser quer im Raum zu verteilen.
Wenig motiviert begebe ich mich wieder in das Getümmel und nehme mir das Weinregal vor. Resigniert stelle ich fest, dass die Sektabteilung wieder den Zustand von vor einer Stunde erreicht hat, aber ich ignoriere es stur. Die Kassen haben sich nicht geleert. Ich wünsche mir trotzdem, ich könnte kassieren, anstatt die dummen Flaschen zu sortieren. Die Kunden haben inzwischen erkannt, dass sie ihren heißerkämpften Platz in der Schlange im Fall eines vergessenen Artikels nicht wieder verlassen dürfen, da er sonst sofort besetzt ist. Das hat zur Folge, dass ich am laufenden Band gefragt werde, ob ich denn nicht schnell eine Packung Streichhölzer, eine Flasche Bier oder Taschentücher holen könnte. Während ich hin und her flitze, sehne ich mich mehr denn je hinter das schützende Kassenband.
In der Abteilung für spanischen Wein finde ich eine Weihnachts-CD. Das erste Lied auf der Trackliste ist passenderweise „Feliz Navidad“. In der letzten Spätschicht hat das Lars ständig gesungen. Unter anderem auch durch das Ladenmikrophon. In seinem Übermut forderte er mich zu einem Duett heraus, das ich aber in meiner (feigen) Vernunft ablehnte. Ihn störte das nicht weiter, er sang einfach in verschiedenen Stimmlagen weiter. Ich hatte immer das Gefühl, Lars verband etwas Besonders mit seinem Mikrophon. Ständig stellte er irgendetwas damit an. Wenn er im Laden war, um Dinge zu ordnen und er an der Kasse gebraucht wurde, sollten wir ihn mit einem Code-Wort ausrufen. Die Kunden blickten zwar etwas seltsam als ich ihn mit „Der Adler bitte ins Nest!“ durchrief, aber das Euphoriegefühl bei meiner einzigen Kassendummheit war es wert.
Lars kommentierte auch gerne Kunden durch das Mikrophon. So rief er einem schlurfenden Mädchen einmal „Füße heben!“ hinterher oder einem sauertöpfisch dreinblickendem Herren „Bitte lächeln!“. Ich musste darüber jedes Mal kopfschüttelnd lachen.
Eine Kundin fragt mich, ob sie die CD habe könne, die sei ja noch ok. Ich drücke sie ihr mit einem gequälten Lächeln in die Hand und arbeite mich weiter vor. Nach gefühlten tausend hin- und hergeschobenen kleinen und großen Flaschen bin ich fertig und darf mich nun endlich in die Kasse setzen. Die Kundenmasse hat etwas abgenommen und fast schon fröhlich verteile ich Treuepunkte, wünsche einen guten Rutsch und öffne und schließe das Zigarettengitter.
Schmunzelnd erinnerte ich mich daran wie Lars den Kunden öfter weismachte, dass sich das Gitter durch einen Bewegungsmelder öffnen ließe und diese dann immer handwedelnd vor der Kasse standen, während er auf den Knopf drückte und heimlich feixte. Das war so lange lustig, bis unsere Chefin einmal an der Parallelkasse stand und es eine ordentliche Standpauke hagelte
Ein kleiner Junge kommt zu mir und kauft eine Flasche Orangensaft. Kurz überlege ich, ob ich ihm sage, dass er den Saft umsonst bekäme, wenn er es schaffen würde in fünf Sekunden bis zur hinteren Wand und wieder zurückzulaufen, aber der Lars in mir ist nicht stark genug.
Es ist fast geschafft, die letzten Kunden verlassen den Laden. Die Tür wird abgesperrt und ich drehe meine Kasse raus. Meine Chefin rollert auf einem leeren Transportwagen an mir vorbei. Ich stelle mir vor, wie Lars neben ihr steht und sie zusammen lachend in das Lager fahren. In diesem Moment wären sie garantiert auf der gleichen Seite gewesen.
– ENDE –
© Ricarda Righetti
24 Montag Dez 2012
Posted Kreative Ergüsse, Prosa
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kurzgeschichte, orchidee, prosa, s-bahn, weiß, weihnachten, weltuntergang
Ich stehe an der Tramhaltestelle und der Wind pfeift mir um die Ohren. Es ist kalt, der Himmel ist grau, das perfekte Wetter für den Weltuntergang im Prinzip. Der lässt allerdings noch auf sich warten. Nicht mal ein Gewitter hat er zu bieten. Aber es ist ja auch erst 14 Uhr. Vielleicht geht es ihm so wie mir und er läuft erst am späten Nachmittag zur kreativen Höchstform auf.
Meine Tram kommt nicht, sie fällt wohl aus. Die nächste Tram ist überfüllt. Die Menschen drängen sich genervt aneinander und man sieht ihnen förmlich an wie sie innerlich die Geschenkelisten durchgehen. Nicht, dass man jemanden vergisst. Das hat ja schon zu manchem Mord geführt.
Nach zehnminütiger Fahrt steige ich in die S-Bahn um und ergattere einen Viererplatz für mich allein. Ich freue mich auf eine entspannte Fahrt mit meinem neuen Buch, doch kurz vor der Abfahrt springen noch drei Teenager in das Abteil und setzen sich zu mir. Es sind zwei Mädchen und ein Junge. Dem Jungen geht es sehr schlecht. Er ist blass und die Augen liegen tief im Schatten. Ich habe noch kurz Mitleid mit ihm, dass er zu Weihnachten krank ist, als ich aus dem Gespräch mitbekomme, dass er in den Weltuntergang reingefeiert hat und somit der Schlafmangel für seinen Zustand verantwortlich ist. Mein Mitleid verfliegt. Aus dem Gespräch höre ich raus, dass eines der Mädchen unbedingt am Abend noch weggehen möchte und dass sie es für eine Schande hält, am Weltuntergangstag zu Hause zu bleiben. Die beiden anderen zeigen sich jedoch wenig beeindruckt, woraufhin das Mädchen sehr unzufrieden wirkt. Wannsee steigen zwei der Teenager aus. Das ausgehfreudige Mädchen wählt sofort eine Nummer in ihrem Telefon an und versucht eine Freundin zum Weggehen zu überreden. Sie hat wohl keinen Erfolg, denn nach zwei Minuten legt sie sichtlich enttäuscht wieder auf und starrt missmutig aus dem Fenster.
In der Zwischenzeit ist ein Pärchen zugestiegen. Sie hat ein Bulldoggengesicht und stinkt nach kaltem Qualm, er ist blass und schmal und sieht so aus, als würde er niemals widersprechen. Es wird schnell klar, dass die beiden noch nicht alle Weihnachtsgeschenke beisammen haben. Besonderes Kopfzerbrechen bereiten ihnen wohl die Geschenke für Oma Ilse und Oma Anna. Aber sie sind nicht ganz ideenlos.
„Ick dachte, wir besorjen jeweils eene Orschidee für die Omas.“, teilt die Bulldoggenfrau mit und der Ton ihrer Stimme lässt mich darauf schließen, dass ich wohl nicht viel zum Lesen kommen werde. „Da koof ick denn ooch mal die weißen, wär mal wat andres!“ Er nickt nur und lässt seinen Kopf müde nach vorne sinken. „Ja dit war schon janz schön früh heute morjen“, kommentiert sie sofort, „aber ick hätte dit Telefon ooch fast nich jehört, wa. Dabei isses doch sonst immer so laut. Letztens war ick im Wohnzimmer und das Telefon lag unterm Kopfkissen und ick hab it trotzdem jehört.“ Er sitzt immer noch zusammengesunken auf seinem Platz. „Weeste, als du mich letztens anjerufen hast!?“, hakt sie nach. Er nickt wieder müde. „Aber wat is denn nu mit die Orschideen? Meinste dit wär wat?“ „Ja, das reicht schon“, sagt er nun endlich und hebt den Kopf, „Süßigkeiten essen sie ja nicht.“ Damit scheint das Thema für ihn erledigt zu sein, denn sein Kopf sackt wieder nach vorne. „Aber ist dit nich ooch doof, wenn wa nur ne Orschidee schenken?“ Das Bulldoggengesicht lässt nicht locker. „Kannste nich mal deine Mutter fragen, was noch wat wäre? Komm, ruf sie doch mal an!“
Ich habe mein Buch inzwischen aufgeben und denke, dass der Weltuntergang mir wirklich einen Gefallen tun würde, wenn er jetzt sofort starten würde.
„Ach, ick gloobe, ick habe mehr Juthaben druff, ick ruf sie ma an.“ Für eine selige halbe Minute herrscht Stille, die aber sofort von einem frustrierten „Sie jeht nich ran!“ wieder zerstört wird. „Dann ist sie wahrscheinlich noch auf Arbeit!“ wirft er besänftigend ein. Sie gibt sich damit aber nicht zufrieden. „Versuch du it doch noch mal uffm Festnetz!“ Resigniert nimmt er sein Handy und wählt die Nummer an. „Hallo Papi“, sagt er kurz darauf in diesem künstlich fröhlichen Kinderton, den wohl alle erwachsenen Kinder auflegen, wenn sie ihre Eltern anrufen. „Ist die Mama da? Ach die ist noch auf Arbeit…“ Er blickt leicht triumphierend zu der Bulldoggenfrau rüber. Die zeigt sich davon jedoch wenig beeindruckt und fällt gleich ein: „Na, dein Papa weeß dit doch bestimmt ooch. Frag ihn mal wejen die Orschideen.“ Er rollt die Augen, spricht aber gehorsam ins Telefon. „Ja, Papa wir haben uns gefragt, was wir der Oma Ilse und der Oma Anna zu Weihnachten schenken könnten. Wir hatten an Orchideen gedacht! Ja, weißte auch nicht, ja ok, bis denn!“ Ratlos mit den Schultern zuckend legt er auf und sagt mit fast ängstlichem Blick: „Vielleicht ruft sie ja zurück, wenn sie deinen Anruf auf ihrem Handy sieht.“ „Naja und wie lange soll ick da warten?“ Sie klingt jetzt etwas angesäuert und ich sinke tiefer in meinen Sitz. „Bis dahin bin ick ja zweemal enkoofen jewesen. Und dit ist schließlich nich meene Familie…dann jibt it halt die Orschideen und denn is jut! Da spar ick mir dann dit Rumjerenne!“ Daraufhin geschieht etwas Seltsames. Anstatt zu antworten, holt der blasse Mann eine Tube Handcreme aus seinem Rucksack und drückt sie dem Bulldoggengesicht in die Hand. Sie scheint ebenso irritiert zu sein wie ich, sagt aber nichts, sondern gibt ihm die Tube schweigend zurück. Er schraubt den Deckel ab und schmiert auf jeden seiner Finger einen dicken Klecks. Anschließend verreibt er alle Kleckse zwischen seinen Händen, sodass ein dicker Creme-Film auf seiner Haut entsteht. Diese Szene hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Sie scheint wie ein Zwischenspiel, wie ein entspanntes Ballettstück in einer dramatischen Oper. Fast hätte ich auch Lust mir die Hände einzucremen. Gespannt warte ich darauf, dass auch sie sich von der Stimmung mitreißen lässt, doch sie blickt ihn nur kopfschüttelnd an und sagt belehrend: „Ick hab dir doch schon so oft jesacht, nich die Masse macht it. Wenn die Kleene nen wunden Hintern hat, schmiere ick ihr doch ooch nich die halbe Tube druff. Dit hilft dann nich…da muss man den Hintern immer wieder eincremen, aber doch nich so viel uff eenmal…“ Sie macht aber auch alles kaputt, denke ich und gucke sie böse von der Seite an. Sein Telefon klingelt. „Ja, hallo Mama, haste kurz Zeit gefunden ja!?“ Er balanciert sein Handy mühsam in seinen glitschigen Händen und ich sehe es schon den Abteilgang langschlittern. Doch er ist scheinbar geübt und hält das Telefon weiter zwischen Ohr und Fingerspitzen. „Achja, mit dir will se reden, aber mit mir wollte sie vorhin nicht sprechen.“, nörgelt die Bulldoggenfrau sofort los. „Jetzt bin ick beleidigt, kannste ihr sagen!“ Sie verschränkt die Arme und schiebt die Unterlippe vor. Er ignoriert den Einwurf und fragt seine Mutter nach den Omas und den Orchideen. Die Spannung steigt. Nach einer halben Stunde gequälter Nerven, kommen wir der Antwort auf die Orchideenfrage nun langsam näher.
Ungeduldig blicke ich den blassen Mann an. Ich muss gleich aussteigen. Langsam schäle ich mich vom Sitz, in der Hoffnung doch noch Antworten zu erhalten. Doch die Mutter des Blassen scheint einen längeren Monolog zu halten und somit herrscht weiterhin Ungewissheit.
Das Handy des feierlustigen Mädchens klingelt. Freudestrahlend nimmt sie ab und versucht wieder jemanden zum Weggehen zu überreden. Sie betont, dass es doch wirklich nicht sein könne, dass man heute zu Hause bliebe. Ich hatte sie schon fast vergessen und freue mich, dass sich scheinbar auch dieses Problem gleich lösen wird.
Die Bahn rollt in den Bahnhof ein, die Türen öffnen sich und ich steige aus. Ich bin ein wenig verärgert. Nun habe ich so lange durchgehalten und werde wohl trotzdem nie erfahren, ob Oma Ilse und Oma Anna Orchideen zu Weihnachten bekommen und ob das Mädchen nun ihre gewünschte Weltuntergangssause feiern kann.
Missmutig blicke ich in den Himmel. Immer noch keine Spur von Veränderung. Insgesamt ein eher unbefriedigender Tag denke ich und laufe los.
-ENDE-